„Wir müs­sen auf So­li­da­ri­tät be­ste­hen“

11. September 2017

Straubinger Tagblatt, S. 5, MONTAG, 11. SEPTEMBER 2017

SPD-Kanz­ler­kan­di­dat Mar­tin Schulz sieht in der Flücht­lings­fra­ge al­le EU-Län­der in der Pflicht

Eine Antwort auf die Flüchtlingsfrage können laut SPD-Chef und Kanzlerkandidat Martin Schulz die Länder der Europäischen Union nur gemeinsam finden. Im Sommerinterview mit unserer Zeitung fordert er deshalb mehr Solidarität bei der Verteilung von Flüchtlingen und ein europäisches Einwanderungsrecht. Bei der Bundestagswahl erwartet Schulz für seine Sozialdemokraten trotz schlechter Werte in den Umfragen „ein sehr gutes Ergebnis“.

Herr Schulz, der Wahlsonntag rückt immer näher, doch Ihr Rückstand auf Angela Merkel bleibt gewaltig. Woraus ziehen Sie jetzt noch Hoffnung auf einen erfolgreichen Schlussspurt?

Schulz: Meine Partei und ich kämpfen nicht für Meinungsfragen, sondern für unsere Politik, für unsere Prinzipien. Das tun wir in der inneren Überzeugung, dass das, was wir sagen, richtig ist. Und das ist jetzt in dieser Phase umso wichtiger, weil sich fast jeder Zweite in Deutschland noch nicht entschieden hat, wen er wählt.

Zu Beginn Ihrer Kandidatur herrschte eine riesige Euphorie. Wie erklären Sie sich den Absturz, der dann folgte?

Schulz: Die Stimmung am Anfang war ein klares Zeichen, dass es einen großen Wunsch nach einer Alternative zu Angela Merkel gibt. Das ist eindeutig und auch heute noch so. Als ich die SPD übernahm, lagen wir in den Umfragen bei 19 Prozent. Das haben wir hinter uns gelassen. Und am Wahlsonntag, und nur darum geht es, wird es ein sehr gutes Ergebnis geben.

Prominente Genossen verhalten sich derzeit auf eine Weise, die dem SPD-Wahlkampf nicht gerade förderlich ist. Gerhard Schröder will Aufsichtsratschef eines russischen Ölkonzerns werden, Sigmar Gabriel macht Aussagen, die so klingen, als glaube er nicht mehr an einen Wahlsieg der SPD. Und Manuela Schwesig schickt ihr Kind auf eine Privatschule ...

Schulz: Das sind drei Paar Schuhe. Sigmar Gabriel ist falsch wiedergegeben worden. Mit Manuela Schwesig habe ich noch nicht über das Thema gesprochen, darum kann ich dazu nichts sagen. Was Gerhard Schröder macht, das sage ich klipp und klar, würde ich nicht machen. Aber es geht bei der Bundestagswahl auch nicht um die Zukunft von Gerhard Schröder. Sondern um die Zukunft der Bundesrepublik Deutschland.

Einem Land, dem es wirtschaftlich sehr gut geht. Kommt deshalb keine Wechselstimmung auf?

Schulz: Deutschland geht es zwar als Land gut, aber dass es jedem im Land gut geht, ist ein Trugschluss. Zum Beispiel haben wir eine Zwei-Klassen-Medizin. Viele Bürger machen die Erfahrung, dass sie im Wartezimmer sitzen, und jemand, der nach ihnen gekommen ist, kommt vor ihnen dran. Weil er privat versichert ist. Und wenn wir bei unserem Rentensystem nicht eingreifen, wird die Altersarmut gewaltig zunehmen. Vor allem Frauen werden darunter leiden. Es gibt Verhältnisse in der Pflege, die teilweise dramatisch sind. Nach zwölf Jahren Angela Merkel sind das erschreckende Befunde.

Die SPD hat in den vergangenen 19 Jahren 15 Jahre entweder den Kanzler gestellt oder war an der Regierung beteiligt. Trotzdem ist es Ihrer Meinung nach um die soziale Gerechtigkeit schlecht bestellt. Warum?

Schulz: Na ja, wir haben eine Menge durchgesetzt: den Mindestlohn, die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren, die Ehe für alle. Doch wir hätten viel mehr schaffen können. Zum Beispiel wurde das Rückkehrrecht für Frauen von Teilzeit in eine Vollzeitstelle von Angela Merkel, von einer Frau, blockiert. Sie hat eine ganze Reihe von Entscheidungen verhindert, mit denen wir sozialen Fortschritt hätten erzielen können. Dafür muss schon Frau Merkel geradestehen. Mit einer SPD-geführten Regierung könnten wir viel mehr erreichen.

Was würden Sie als Kanzler als Erstes unternehmen, um Deutschland gerechter zu machen?

Schulz: Als Erstes würde ich die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen angehen. Und dann eine nationale Bildungsallianz auf den Weg bringen. Wir brauchen eine Gemeinschaftsfinanzierung von Bund und Ländern bei den Schulen. Es gibt 30 Milliarden Steuerüberschüsse. Die würde ich nicht in die Rüstung stecken, wie das Frau Merkel plant. Sondern in Bildung, in die Infrastruktur und in den geförderten Wohnungsbau. Es ist ein Riesenproblem, dass in vielen Städten selbst Doppelverdiener die Miete kaum noch bezahlen können. Oder dass Studenten mehr Zeit mit der Wohnungssuche als mit dem Studium verbringen müssen.

Die Arbeitswelt steht vor gewaltigen Umbrüchen. Lastwagen, Busse und Taxen könnten bald ohne Fahrer unterwegs sein. Roboter in der Industrie, Kassen, an denen kein Mensch mehr gebraucht wird – wie sollen die wegfallenden Stellen ersetzt werden?

Schulz: Ich finde, wir müssen das in Deutschland viel stärker als Chance begreifen! Ich habe überhaupt keinen Zweifel, dass durch die Digitalisierung auch neue Arbeitsplätze entstehen werden. Doch Deutschland ist dabei, seine digitale Zukunft zu verspielen. Wir liegen bei der digitalen Infrastruktur hinter Chile und Mexiko. Sogar Peru hat ein besseres Handynetz als wir. Der Breitbandausbau funktioniert überhaupt nicht. Zudem brauchen wir eine neue Risikokapitalkultur. Wer in Deutschland mit einer Geschäftsidee scheitert, ist weg vom Fenster, stigmatisiert für den Rest seines Lebens. Unternehmer aber haben eine zweite Chance verdient. Nicht nur in der Gründerkultur hinken wir den USA hinterher, auch in vielen Technologiefeldern. Auch China hängt uns gerade in einigen Bereichen ab. Da ist eindeutig nicht genug gemacht worden.

Was würden Sie in der Flüchtlingsfrage, die viele Menschen wie kaum ein anderes Thema beschäftigt, anders machen als Angela Merkel?

Schulz: Frau Merkel hat gesagt, „die Flüchtlinge können kommen“, dann hat sie den europäischen Partnern gesagt, „jetzt ist es aber zu viel, Ihr müsst welche nehmen“. Und die anderen haben gesagt, „nein, wir haben die nicht eingeladen“. Die Nachbarn hätten vorher einbezogen und nicht im Nachhinein informiert gehört. Aber wir brauchen eine europäische Lösung, dazu gehört die Umverteilung von Flüchtlingen in den Mitgliedstaaten. Der Europäische Gerichtshof hat ja jetzt entschieden, dass auch Ungarn und die Slowakei Flüchtlinge aufnehmen müssen.

Aber dabei geht es nicht um große Zahlen. Bei Ungarn um 1 300 Flüchtlinge, bei der Slowakei um 900. Auch in vielen anderen Ländern Europas ist die Bereitschaft zur weiteren Aufnahme von Flüchtlingen nur sehr schwach ausgeprägt. Wie soll also so eine europäische Lösung funktionieren?

Schulz: Wir müssen auf Solidarität in dieser Frage bestehen. Wer in anderen Feldern gern Finanzhilfen von der EU in Anspruch nimmt, kann sich bei der Aufnahme von Flüchtlingen nicht drücken. Auch Ungarn nicht, das mit seinem unmenschlichen Verhalten 2015 die Flüchtlingskrise mit ausgelöst hat. Das muss man sich vorstellen – die Partei von Präsident Viktor Orbán ist ja eine Schwesterpartei der CDU. Und CSU-Chef Horst Seehofer lädt ihn als Ehrengast ein und wirft Angela Merkel vor, dass sie die Herrschaft des Unrechts zulässt. Dagegen musste die SPD sie in Schutz nehmen.

Ausgerechnet Deutschland soll osteuropäischen Ländern drohen, den Geldhahn zuzudrehen, wenn sie keine Flüchtlinge aufnehmen. Droht da nicht ein Zerfall der EU?

Schulz: Wir zwingen niemandem etwas auf. Sondern Länder wie Ungarn lassen uns im Stich. Es geht hier um einen Beschluss der Europäischen Union, dessen Ausführung Pflicht aller Mitglieder ist. Stattdessen sagt Ungarn, das sei ein rein deutsches Problem. Wir brauchen ein europäisches Einwanderungsrecht. Momentan haben wir ja die Situation, dass viele, die einwandern wollen, mit Schleppern kommen und Asyl beantragen, weil sie hoffen, dann bleiben zu können. Das ist ein unhaltbarer Zustand. Wenn legale Einwanderung möglich wäre, würde der Druck zur illegalen Einwanderung nachlassen. Die Mitgliedstaaten müssen sich auf eine Quote verständigen, wie viele kommen können. Und die werden dann auf die Mitgliedstaaten verteilt.

Warum aber sollte, wer als legaler Einwanderer keine Chance hat, nicht doch sein Glück über das Asylrecht versuchen?**

Schulz: Ein Flüchtling hat Anspruch auf Schutz, aber kein Recht auf Schutz in einem bestimmten Land. Wir brauchen überall in der EU die gleichen Kriterien für die Aufnahme von Flüchtlingen und vergleichbare Standards für ihre Unterbringung und Versorgung. Sonst bleibt diese gewaltige Magnetwirkung von Deutschland erhalten.

Um ein Einwanderungsgesetz überhaupt durchsetzen zu können, müsste Europa aber seine Außengrenzen schützen können.

Schulz: Natürlich. Wir haben schon vor über 20 Jahren im Europaparlament beschlossen, dass die Abschaffung der Binnengrenzen einen effektiven Schutz der Außengrenzen verlangt. Leider haben die Staats- und Regierungschefs das bis heute nicht hinbekommen. Wir müssen aber schon in Nordafrika dafür sorgen, dass sich die Menschen nicht in die Hände von Schleppern begeben – und damit in tödliche Gefahr. Dazu müssen wir auch mit den Staaten Afrikas zusammenarbeiten. Nur haben wir leider in Libyen das Problem, dass es dort durch rivalisierende Banden keine echte Staatlichkeit gibt. Ich bin auch der Meinung, dass die Registrierung der Menschen vor Ort erfolgen muss. Aber das kann man bestimmten Staaten nicht überlassen, das muss unter internationaler Kontrolle erfolgen.

Würde Deutschland mit Martin Schulz als Bundeskanzler weniger Flüchtlinge aufnehmen als mit Angela Merkel als Regierungschefin oder mehr?

Schulz: Das ist eine rein theoretische Frage. Europa muss Flüchtlinge aufnehmen, wenn sie kommen. Aber die Fluchtursachenbekämpfung wäre unter einem Kanzler Martin Schulz sicher intensiver als unter Angela Merkel. Eine Obergrenze gibt es mit uns jedenfalls nicht – das ist ein CSU-Vorschlag. Was ist denn, wenn die Quote erfüllt ist, und dann kommt eine von der Terrormiliz Islamischer Staat gefolterte Frau? Die können wir nicht zurückschicken, das wäre nicht nur unmenschlich, sondern würde auch gegen das Grundgesetz verstoßen.

Auch wegen Terroranschlägen und Verbrechen, die von Flüchtlingen begangen wurden, fühlen viele Bürger sich nicht mehr sicher. Was würden Sie dagegen unternehmen? Schulz: Wir müssen ganz sicher Gefährder ganz schnell abschieben. Das gilt auch für schwere Straftäter, die können hier nicht bleiben. Niemand kann aber absolute Sicherheit versprechen. Wir brauchen viel mehr Prävention und auch eine bessere geheimdienstliche Aufklärung. Gegen Hassprediger müssen wir konsequent vorgehen, Moscheen, in denen Gewalt gepredigt wird, müssen wir schließen, die Finanzströme von Islamisten austrocknen.

Das einzige TV-Duell war Ihre große Chance, Angela Merkel zu konfrontieren. Doch viele empfanden das Duell eher als Duett, als Bewerbung für eine weitere schwarz-rote Koalition: Warum waren Sie so zahm?

Schulz: Ich finde, ich habe meine Positionen klargemacht. Und im Rahmen der mir zur Verfügung stehenden Zeit habe ich vorgeführt, wie Angela Merkel sekundenschnell ihre Positionen räumt. Aber ich wäre bereit für ein zweites Duell.

Interview: Bernhard Junginger

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